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Über den positiven Umgang
mit der Dekadenz
unseres Zeitalters
Kreativität und Innovation sind die Speerspitzen
unserer Gesellschaft. Ohne sie keine Weiterentwicklung der Technologien,
kein Wachstum, kein höheres Bruttosozialprodukt, kein erfolgreicher
Kapitalismus, keine gutgehende Marktwirtschaft, eventuell nicht mal mehr
Demokratie.
Alle, die am Rande des Dagewesenen arbeiten, immer bereit, Neuland zu
betreten, Neues, Niedagewesenes zu entdecken, sind die Helden unserer
Gesellschaft. Egal, ob es Sportler, Künstler oder Wissenschaftler
sind, immer stehen sie vor der Frage, ob das, was sie tun, über das,
was es gibt, hinaus reicht und trotzdem schlüssig zu dem passt, was
es schon gibt.
Erfolg ist, die Balance zu halten. Und man muss nachlegen. Denn nur wer
sich an prominenten Plätzen und möglichst lange auf diesem Grat
zwischen Vergangenheit und Zukunft hält, der wird bewundert. Denn
er ist es, der unsere Kultur, unsere Zivilisation voran bringt.
Wissenschaftler schaffen die Fakten, an die die Produktion anschließen
kann. Künstler schaffen die Milieus, in denen die Produktion gedeiht.
Dabei geht es heute um direkte Verwertungzusammenhänge.
Bei den technischen Innovationen liegt diese hoch beschleunigte Realisierung
von Ideen auf der Hand. Angestrebt wird heute vor allem - wie schon in
den letzten fünfzehn Jahren - eine immer bessere, immer praktikablere
Verarbeitung von Datenmengen: IT. Nach den Bildschirmhandys werden sich
leichte, portable Notebooks mit permantenter Internetverbindung durchsetzen,
und dann - so könne wir nur hoffen - irgend etwas ähnlich Nützliches.
Die Aufgabe der künstlerische Kreativität ist es, den entsprechenden
content zu liefern. Bilder sind wichtig, denn aus ihnen werden CD-Hüllen,
Bucheinbände, Stilvorlagen für Videospiele, Filme, Werbeästhetik,
Stoffmuster und Bildschirmoberflächen. Vor allem in der Popkultur
hat man gesehen, dass jede Idee der letzten fünfzig Jahre in dieser
Weise immer und immer wieder hoch gewürgt und noch einmal gekaut
und verdaut wurde: Jeder Terminal ein Kuhmaul, jeder Server ein Kuhmagen.
Wörter sind dabei nicht unbedingt unwichtiger, doch dürfen sie
sich nicht der schnellen und effektiven Bearbeitung widersetzen. Ihre
Ikonizität ist wichtiger als ihre Indexikalität. Reduce
to the max, just do it oder Freude am Fahren,
... verweisen zwar auf bestimmt Produkte, doch als Symbole stehen diese
Aussagen für ein und dasselbe: Erfolg. Werbungen sind die Kurzform,
die Epigramme, die Mantras für IHN, das Spielfilmhappyend immerhin
noch SEINE kulturelle Apotheose.
Kultur war früher - das kann man heute auch deskriptiv sagen -zu
größeren Anteilen angereichert mit Geschichten des Scheiterns,
war über weite Strecken (ob Tragödie, oder Komödie) Betrachtung
des Scheiterns samt Katharsis und anschließender Zufriedenheit mit
dem Erreichten. Doch das, das wäre heute subversiv.
Tatsächlich aber ist Erfolg nur eine Möglichkeit zu sein. Die
europäische Kultur hat sich seit Anfang an immer mit dem Scheitern
als einem letztlich unausweichlichen Aspekt des Lebens beschäftigt
- sie wollte fürs Schlimmste zumindest mental gewappnet sein.
Heute bleibt Jackass (ausgestrahlt jeweils dienstags und freitags
22 Uhr auf MTV): Eine Aneinanderreihung brutaler, banaler und kaputter
Ikonen des Scheiterns. Lustig, aber wenig mehr als die bewusste Inszenierung
böser Missgeschicke, gepaart mit Versteckter-Kamera-Mitschnitten
der anderen Art. Jackass ist der letzte Rest massenkompatiblen
Scheiterns nach 2500 Jahre europäischer Kulturgeschichte, das Rudiment
einer Kultur deren Ursprung Tragödien waren, der letzte gemeinsame
Nenner, das was noch alle verstehen, der Unterschied zwischen Hoch- und
neuer Popkultur.
Wir leben heute in einer Kultur, die mit dem Scheitern ihrer Existenzberechtigung
verlustig geht, weil sie dafür keine Anknüpfungspunkte hat,
keine Geschichten hat, in die dieses Scheitern eingebettet werden kann,
weil nur noch eines zählt, Erfolg, materieller Erfolg, Geld. Scheitern
ist heute nur noch Verlust, Insolvenz.
Solange wir nicht im kleinen darüber reden, solange wir unser persönliches
Scheitern nicht pflegen, nicht kultivieren, wird alles scheitern. Und
keiner wird es je merken.
PHILIPP CATTERFELD
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